aus:
Ingrid Olbricht: Die Brust. Organ und Symbol weiblicher
Identität; Kreuz-Verlag 1985, Rohwolt-Verlag (rororo)
1989
Sex als
körperliche und psychische Verschmelzung
Sex macht aus Ich und Du ein "Wir". Man wird für kurze
Zeit zum androgynen Wesen, das ganzheitlich männlich und
weibliche gleichzeitig ist, trivial gesagt ein "Tier mit
zwei Rücken". Die Unterscheidung in Mann und Frau ist
überwunden. Sex, wo man sich gegenseitig anschauen kann,
ist spezifisch menschlich und kommt bei Tieren nie vor.
Sex schafft Nähe, überbrückt Grenzen, ist lustvoll und
ein grundlegendes Bedürfnis (S.137).
Das Wir entsteht durch Bereitschaft zur gleichmässigen
Veränderung von Ich und Du. Ohne Bereitschaft zur
Veränderung entsteht das Wir nicht (S.146).
Verschmelzung und
psychisch krankes Streben nach Dauerverschmelzung
Das Streben nach Verschmelzung ist natürlich. Das Ziel
der Dauerverschmelzung und die Suche des Paradieses
im Körperlichen entspricht aber dem Kleinkindverhalten.
Menschen die so denken, sind seelisch im Kleinkindalter
steckengeblieben (S.138). Solche Menschen laufen Gefahr,
sich in der Sexualität des jeweils anderen Geschlechts
zu verlieren, so dass sie bald abgestossen werden und
alleine bleiben. Die Therapie ist dann der Anfang für
die Entwicklung des Selbst (S.142). Die Sexualität des
anderen Geschlechts erweist sich in diesen Fällen als
Entwicklungsblockade, gefördert von der "Zivilisation",
die das Wesen der Menschen mit Technik ersetzen will
(S.144).
Weitere Arten der
Verschmelzung
-- Zungenkuss als Verschmelzung (S.137)
-- Brüste im Mund als Verschmelzung (S.137)
-- Oraler Sex als Verschmelzung (S.137)
Stillen als Verschmelzung
Mutter und Kind verschmelzen zum Doppelwesen, zur Dyade.
Stillen schafft Nähe, überbrückt Grenzen, ist lustvoll
und ein grundlegendes Bedürfnis (S.137).
Machtspiele torpedieren die
Verschmelzung in der Beziehung
Bei einseitiger Veränderung oder bei Machtspielen kommt
es zum Missbrauch der Vereinigung. Diese
Grenzüberschreitungen werden schmerzhaft, werden zur
Qual, entwickeln eventuell Aggression etc. Das Paradies
der Vereinigung wird vergiftet. "Bindung wird zum
Besitzverhältnis umstrukturiert und zum [seelischen]
Gefängnis pervertiert." (S.146).
[Diese Machtspiele kommen in psychischer oder sexueller
Weise unter Erwachsenen vor, oder in psychischer Weise
zwischen Eltern und Kindern als psychischer
Kindsmissbrauch vor, in sexueller Weise als körperlicher
Kindsmissbrauch].
Verschmelzung ohne
seelisch-psychische Grenzen
Wenn in der Kindheit und in der Jugend [durch Umstände
der Erziehung] keine seelisch-psychische Grenzen
ausgebildet werden konnten, dann besteht mit dem
Sexualpartner eine seelische Dauervereinigung. Auf lange
Sicht ist dies ein quälender Zustand, weil Distanz nicht
möglich ist (S.147).
[Dies kann für einen oder für beide Partner gelten].
Sex ohne seelische
Verschmelzung
Sex ohne seelische Vereinigung ist eine Vereinigung ohne
Ganzheitserlebnis. Eventuell kommt dann Scham
voreinander auf (S.137). Wenn die Menschen [durch
Umstände der Erziehung] kein Bewusstsein mehr haben, was
sie tun, kommt keine Scham mehr auf. Menschen, die
schamlosen Sex als Selbstverwirklichung bezeichnen,
haben dann sogar die Scham verloren. Dann werden die
inneren Wünsche und Defizite durch Sex verdeckt [bis die
ungebändigte zerstörerische Energie auftritt, oder bis
AIDS kommt] (S.138).
[Psychisch-seelische
Verschmelzung ohne Sex?
ist die "platonische Liebe", die dauernd ohne den
wesentlichen Teil des Körperkontakts auskommen muss und
als Vorphase einer Beziehung sicher positiv zu werten
ist, als Beziehung selbst aber krankhaft ist, Hemmungen
und hormonelle Defizite verursacht und Psychosen bis hin
zum verzweifelten Selbstmord verstärken kann].